Wohnsituation nach 1919

Wohnsituation vor 1918Wohnsituation nach 1919Gemeindebauten ab 1919Wohnsituation nach 1945Gemeindebauten ab 1945Wohnsituation nach 1958 | Gemeindebauten ab 1959 | Kunst am Bau

Für Wien war der erste Weltkrieg mit seinen Folgen von ausschlaggebender Bedeutung wie für keine andere Stadt Europas. Bis 1918 war Wien Hauptstadt und Verwaltungszentrum der Österreich-Ungarischen Monarchie, eines Vielvölkerstaates, der von bedeutender Größe und wirtschaftlicher Stärke war. Der Verlust des Krieges und der Zerfall der Monarchie in sieben selbständige Nachfolgestaaten ließ Wien zur Hauptstadt der Republik Österreich, eines Kleinstaates, herabsinken. Diese Veränderung der wirtschaftlichen Position war so einschneidend, dass kaum jemand an die wirtschaftliche Lebensfähigkeit Österreichs glaubte. In der Sozialdemokratie war die Diskussion um ein „Deutsch-Österreich“ Ausdruck des absolut fehlenden Nationalbewusstseins und nationalen Selbstvertrauens.

Bei den Wahlen 1919 wurden die Christlich Sozialen im Bund die stärkste Partei, in der Gemeinde Wien die Sozialdemokraten. Das „Rote Wien“, das sich als fortschrittliches „Neues Wien“ definierte, verstand sich als ideologische Opposition gegenüber den bürgerlichen Parteien, die seit 1920 den Bundeskanzler stellten. Da Wien damals noch Teil von Niederösterreich war, war der Handlungsspielraum eingeschränkt.

Wien verlor nicht nur an Bedeutung. Dem „Wasserkopf“ Wien wurde der Untergang in die Bedeutungslosigkeit vorhergesagt. Zwar sank kriegsbedingt die Zahl der Einwohner, doch nach Kriegsende strömten Zuwanderer und Kriegsflüchtlinge aus den ehemaligen Kronländern zurück nach Wien. Das und vermehrte Eheschließungen und Haushaltgründungen führten zu einer Erhöhung der Zahl der Haushalte um 40.000. Es herrscht extremer Wohnungsmangel.

Die Stadt Wien sah sich also vor die Aufgabe gestellt, das historische Erbe einer wirtschaftlich schwachen, von einem enormen Wohnungselend geplagten Stadt zu übernehmen.
Schon während des ersten Weltkrieges 1917 wurde zur Bekämpfung der Inflation und aus anderen kriegswirtschaftlichen Überlegungen ein Mieterschutzgesetz beschlossen. Es beinhaltete sowohl einen Kündigungsschutz, wie auch einen Mietzinsstop (Friedenszins). Damit wurden aber die Ertrags­chancen für den privaten Wohnungsbau zunichte gemacht.Damit kam die private Wohnbautätigkeit praktisch zum Erliegen. Der nunmehr niedrige Zins führte auch zu einem Rückgang der Untervermietung und Bettgeher. Auch das verschärfte noch die Wohnungssituation.
Bereits 1919 als die Sozialdemokratie die Wahl gewann und Jakob Reumann der sozialdemokratische Bürgermeister wurde, begann die Stadtregierung Programme zur Bekämpfung der Wohnungsnot zu entwickeln. Voraussetzung für erfolgversprechendes Handeln war eine finanzpolitische Unabhängigkeit Wiens, die nach der Trennung von Niederösterreich möglich wurde. 1920 erließ man ein „Trennungsgesetz“, am 1.1. 1922 erfolgte schließlich nach langen Diskussionen die Umsetzung des Beschlusses mit der Deklaration Wiens als eigenständigem Bundesland.

Bis 1923 wurden 3.732 Wohnungen gebaut. September 1923 beschloss der Wiener Gemeinderat das 1. Wiener Wohnbauprogramm. 25.000 Wohnungen sollten in 5 Jahren errichtet werden. Bereits 1926 wurde der Grundstein für die 25.000 Wohnung gelegt und so wurde 1927 der Bau von weiteren 30.000 Wohnungen beschlossen. Insgesamt wurden in der Zeit der 1. Republik 63.000 Wohnungen von der Gemeinde Wien errichtet.

Man musste den Mieterschutz und die geringen Mieten beibehalten und begründete das in der Broschüre „Die Wohnungspolitik der Gemeinde Wien“ 1929 folgender Maßen.
Die Löhne in Österreich waren nie Hoch. Sie haben sich immer an der Grenze des lebensnotwendigen bewegt. Die Quoten für Lebensmittel, für Kleidung, der bescheidene Anteil des Lohnes, der für Vergnügungen, für Bildungsbestrebungen bestimmt ist, vertragen keine Kürzung. Eine einzige Komponente ist es, die aus dem Lohn entfernt werden kann, ohne die Leistungsfähigkeit der Arbeiter, der Angestellten herabzudrücken. Das ist der Wohnungsaufwand. Er hat in der Vorkriegszeit 25 Prozent des Lohnes eines Arbeiters verschlungen. Ein volles Viertel für eine kleine, schlechte Wohnung! Durch die Geltung des Mieterschutzes ist dieser Teil der Ausgaben unbedeutend geworden. Bloß etwa 2 Prozent des Lohnes im Durchschnitt. Fällt der Mieterschutz, dann müssen die Löhne in die Höhe schnellen. Bei der Exportindustrie, von deren Aufrechterhaltung das Schicksal des Landes abhängt, sind Lohnsteigerungen auch nur in einem entfernt annähernd so hohen Ausmaß, wie dies bei Aufhebung des Mieterschutzes notwendig werden würde, angesichts der geschilderten ungünstigen Produktionsverhältnisse nicht unterzubringen. Die Nahrung, die Kleidung des Arbeiters aber nennenswert herunterzudrücken. ist gleichfalls unmöglich. Deshalb ist der Fortbestand des Mieterschutzes das höchste wirtschaftliche Gebot im heutigen Österreich.

Die Gemeinde Wien sah sich gezwungen, den Wohnungsbau in eigener Regie zu übernehmen. Die Baukosten auf die Miete aufzurechnen hätte zu unzumutbaren Belastungen der Mieter geführt.
Um das leisten zu können, wurde 1923 die Wohnbausteuer eingeführt. Die Struktur der Steuer entsprach dem sozialen Anspruch der damaligen Sozialdemokratie. Die Steuer war stark progressiv, so dass die ca. 0,5 % teuersten steuerpflichtigen Objekte mehr als 40 % zum Steueraufkommen beitrugen. Die ca. 86 % billigsten Objekte erbrachten nur 23,5 %. Es wurden weitgehend die Wohlhabenden zur Finanzierung des Wohnungsbaus für die Armen herangezogen.

Diese von Finanzstadtrat Hugo Breitner erwirkte Steu­erleistung für das Wohnbauprogramm und die neuen Gesundheitseinrichtungen konnte aufgrund einer gleichzeitig eingeführten Luxussteuer (für Kraftfahrzeuge, Nachtklubs, Restaurants, Haushaltsgehilfen, Strom, Pferde, Hunde etc.) finanziert werden: „Die Betriebskosten der Schulzahnkliniken liefern die vier größten Wiener Konditoreien. Die Schulärzte zahlt die Nahrungsmittelabgabe des Sacher. Das städtische Entbindungsheim wurde aus den Steuern der Stundenhotels erbaut und seine Betriebskosten deckt der Jockey-Klub mit den Steuern aus den Pferderennen.“ (Zitat Breitner)

Da die hohen Abgaben auf Luxusartikel vor allem die wohlhabenden bürgerlichen Schichten trafen, wurde Breitner zur Zielscheibe vielfacher Kritik und von der bürgerlichen politischen Propaganda als „Steuertytrann“ und „Steuerbolschewist“ bezeichnet.

Die Finanzierung allein hätte den Wiener Gemeindebau nicht zum international beachteten Vorbild gemacht. Die Wiener Arbeiter sollten nicht nur mit leistbaren Wohnungen versorgt werden, sondern auch mit gute und gesunden, die, unter dem Motto „Licht, Luft und Sonne“, Wasser und WC innen hatten und gut belichtet und belüftet waren.

So schrieb Otto Bauer 1928 „die Menschen die in diese Wohnungen hineinkommen, erfahren erst, was Wohnen heißt. … Es ist klar, daß da Menschenheranwachsen, ganz anders, viel gesünder, kulturell höherstehend, Menschen, deren Arbeitskraft darum viel leistungsfähiger ist.“

Die Anlagen mit ihren großen Höfen – beim Lassalle Hof 42 % – boten aber noch mehr. In den meisten Fällen wurden die Anlagen durch sie erschlossen. Den Charakter der Höfe würde man heute als halböffentlich bezeichnen. Sie waren Bereich der Kommunikation bevor man den anonymen Raum der Straße betrat. Die meisten Gemeinschaftseinrichtungen waren entweder in eigenen Baulichkeiten in den Höfen untergebracht oder aber durch sie erschlossen.

Grundlegend für eine große Gruppe dieser Einrichtungen waren soziale und wirtschaftliche Überlegungen. Neben den Einrichtungen der medizinischen Betreuung und Sozialfürsorge (Schulzahnklinik, Tuberkulosen- und Mutterberatung usw.) wurde besonders für die berufstätige Frau Vorsorge getroffen. Kindergärten waren in den größeren Anlagen Standard. Die Einrichtung von mechanisierten Zentralwaschküchen ist für uns heute fast schon wieder überaltert, weil mittlerweile jeder seine eigene Waschmaschine besitzt, doch war diese Einführung der Gemeinde Wien damals eine enorme Entlastung für die Hausfrauen und zusätzlich noch ein Treffpunkt, ein Ort der Kommunikation, des Austausches von Erfahrungen und Problemen.

Dazu gab es noch eine Gruppe von Gemeinschaftseinrichtungen, die wie die beschriebenen sozialpolitisch motivierten, ihr Vorhandensein nicht einer unmittelbaren absoluten Notwendigkeit verdanken, sondern dem Engagement der Sozialdemokratie. Sie waren ein politisches Anliegen, das mit zur Grundlage der Planung gemacht wurde. Es waren Einrichtungen die der Kommunikation (Sport-, Jugend- und Arbeiterklubs), wie auch zur individuellen und gemeinschaftlichen Weiterbildung dienten. Vortragssäle und Bibliotheken waren in größeren Anlagen fixer Bestandteil. Man war politisch davon überzeugt, zur Verbesserung der Lage der Arbeiter über den Sektor Bildung bzw. Kultur beitragen zu können und wollte dies im Bereich des Wohnens durch das Bereitstellen entsprechender Einrichtungen realisieren.

Der „soziale Wohnungsbau“ der Jahre 1919–1934 stellt sich in Finanzierung, Mietenpolitik, Vergabe und Struktur der Gemeinschaftseinrichtungen als Ausdruck der politischen Intensionen der damaligen Sozialdemokratie dar. Sie war fähig, am Wohnungssektor, als Teil ihrer Sozialpolitik, im gegebenen gesellschaftlichen Rahmen echte Verbesserungen zu erzielen. Es war nicht die Erfassung der Bedürfnisse mittels empirischer Sozialforschung, sondern die politische Bestimmung der Prioritäten und Notwendigkeiten, die zu diesem Ergebnis führten.

In der Broschüre aus dem Jahr 1929 heißt es zur Gestaltung: „Wenn auch die Gemeinde Wien keine Luxusbauten errichtet, soll damit keineswegs gesagt werden, daß sie bei ihren Neuschöpfungen die Kunst ausgeschaltet habe. Kunst ist kein Luxus, sie ist notwendig für ein aufstrebendes Volk. Von diesem Gesichtspunkte aus hat auch die Stadt Wien gehandelt, als sie namhafte Wien er Architekten mit ihren Zweckbauten betraute und bedeutende Bildhauer berufen hat, sie zu schmücken.“

Der Wohnungsbau der Gemeinde Wien war trotz aller ökonomischen Einschränkungen nicht nur auf die Errichtung von möglichst billigem Wohnraum reduziert. Vor allem bei den großen Anlagen an den Einfallsstraßen nach Wien wurde die Leistungsfähigkeit des „Roten Wien“ baulich demonstriert. Gekonnt wurden die großen Baukörper – oftmals von Schülern Otto Wagners – gegliedert. Die Formensprache und Ausschmückungen der Fassaden entsprachen der Zeit. Obwohl viele unterschiedliche Architekten mit der Planung betraut waren, erkennt man heute einen Gemeindebau der Zwischenkriegszeit auf den ersten Blick.

Die Wohnungen waren von der Anzahl, Ausstattung und Größe sehr genau vorgegeben. So setzten sich z. B. die 290 Wohnungen im Lassalle Hof folgender Maßen zusammen: 28 Wohnungen mit 25 m², 5 Wohnungen mit 55 m², 163 Wohnungen 36m², 2 Wohnungen mit 56 m², 12 Wohnungen mit 46 m², 5 Wohnungen mit 75 m², 74 Wohnungen mit 50 m² u 1 Wohnung mit 57 m² Im Zuge dieses Programms wurden in der Leopoldstadt 23 Wohnhausanlagen mit 2.400 Wohnungen errichtet.

Folgende Typen wurden nach 1927 ausgeführt:
a) Wohnungen mit 40 Quadratmeter Nutzfläche
2 m² Vorraum
1 m² W.C.
7 m² Kochküche
18 m² Wohnzimmer
10 m² Schlafkammer
b) Wohnungen mit 49 Quadratmeter Nutzfläche
2 m² Vorraum
1 m² W.C.
7 m² Kochküche
18 m² Wohnzimmer
2 x 10,5 m² für zwei Schlafkammern
c) Wohnungen mit 57 Quadratmeter Bodenfläche
2 m² Vorraum
1 m² W.C.
7 m² Kochküche
2 x 18 m² für zwei Zimmer
11 m² für eine Kammer
d) Ledigenwohnräume mit 21 Quadratmeter, und zwar:
2 m² Vorraum mit Gasrechaud
1 m² W.C.
18 m² ein Zimmer mit eingeleitetem Wasser